Seit über 30 Jahren wird der Titel „Kulturhauptstadt Europas“, einem der erfolgreichsten Kulturprogramme der Europäischen Union, an eine europäische Stadt vergeben. In den ersten Jahren ging er an Städte, die – nach damaligem Verständnis – den Titel zweifelsfrei verdienten: Athen, Florenz, Amsterdam, Berlin und Paris. Und dann kam Glasgow (1990). Diese Stadt passte irgendwie nicht in die bisherige Abfolge, auch nicht in jene, die danach folgte: Dublin, Madrid, Antwerpen, Lissabon, Luxemburg und Kopenhagen. Und doch wird Glasgow zitiert, wenn die erfolgreiche Entwicklung einer Stadt durch den Titel beispielhaft aufgezeigt werden soll, denn der „Glasgow-Effekt“ beschreibt einen städtischen Transformationsprozess: weg von der ehemaligen Industriestadt, hin zu einer weltoffenen, kulturell geprägten Stadt. Es wurde erstmals ein nationaler Wettbewerb ausgeschrieben und über den Erfolg der Strategie reflektiert. Dies war die Geburtsstunde der Kulturhauptstadt-Evaluierungen.

Das Regelwerk der Initiative seitens der EU war in den Anfängen eine knappe A4-Seite lang, weder langfristige Auswirkungen noch nachhaltige Ziele waren Kriterien, auch von einer Evaluierung war nicht die Rede. Und doch hat Glasgow eine Studie zu den Besucherzahlen, zum Status quo des Kulturprogramms im Jahr 1990, den wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Veranstaltungsjahres im Kultursektor sowie zu den Indikatoren für mögliche längerfristige Entwicklungen in Auftrag gegeben.

Was folgte danach?

Der Titel schmückte zusehends sogenannte „Second Cities“ – nicht die bekannten Haupt- und Kulturstädte der Mitgliedsstaaten, sondern die zweit- und mittlerweile drittgrößten Städte. Die Budgets und Infrastrukturausgaben wuchsen ebenso wie die Nächtigungszahlen. Im Jahr 2004 wurde die erste und bislang immer noch umfangreichste, vergleichende Studie bisheriger Kulturhauptstädte veröffentlicht: der „Palmer Report“. Auch darin wird Erfolg größtenteils quantitativ bewertet.

Die Regeln für die Vergabe des Titels „Kulturhauptstadt Europas“ entwickeln sich ständig weiter mit dem Ziel, dass die Stadt / die Städte, die den Titel tragen, den bestmöglichen Mehrwert aus dem Jahr schöpfen können. Die Vorgaben zu den Evaluierungen beschränkten sich im Laufe der Zeit (abwechselnd) darauf, ob diese von den Städten selbst durchgeführt werden können oder externe unabhängige Bewertungen sein müssen. Gleichgeblieben ist die Regelung, dass die Bewertungen mit dem 31. Dezember des Folgejahres vorgelegt werden müssen.

Fragestellungen und Empfehlungen

Die Bewerbungsprozesse dauern heute länger, es muss eine vorausschauende langfristige Entwicklung gut verankert werden. Auch die Zielvorgaben der aktuellen Richtlinien und die Zusammensetzung der Jury spiegeln die steigende Bedeutung des Titels als Stadtentwicklungsinstrument wider. Der Zeitpunkt der Evaluierung ist jedoch weiterhin der 31. Dezember des Folgejahres.

Empfehlung Nr. 1: Glaubhafte Aussagen über die langfristigen Auswirkungen setzen Reflexionen nach fünf bzw. zehn Jahren nach dem Veranstaltungsjahr und später voraus.

Selten denkt man in der Startphase bereits an die Evaluierung möglicher Erfolge. Eine Evaluierung braucht allerdings einen Status quo der Ausgangslage.

Empfehlung 2: Dieser ist zu Beginn des Bewerbungsprozesses essenziell, um Veränderungen glaubhaft ermitteln und darstellen zu können.

Empfehlung 3: Die Definition der Ziele des Bewerbungsprozesses und des Titeljahres gehören dazu, denn Evaluierungen sollen Aussagen über deren Durchführung, Relevanz, Effizienz, Auswirkungen sowie Nachhaltigkeit treffen.

Evaluierungsberichte, die von der Durchführungsgesellschaft des Veranstaltungsjahres verfasst werden, nur auf Basis statistischer Daten oder aufgrund von zwei oder drei (Kurz-)Besuchen vor Ort entstehen, erscheinen nur bedingt objektiv.

Empfehlung Nr. 4: Langfristige Begleitprozesse durch unabhängige wissenschaftliche Institutionen können Veränderungsprozesse umfassender und nachhaltiger festhalten.

Der Titel ist zu einem Instrument für kulturell geprägte Stadtentwicklungsprozesse geworden und Städte können sich nur durch ein Miteinander vieler Interessengruppen qualitätsvoll entwickeln.

Empfehlung Nr. 5: Das Forschungsdesign für eine Evaluierung sollte im Zusammenspiel all dieser Interessengruppen erarbeitet werden.

Jene Städte, die den Prozess zur Kulturhauptstadt ehrlich und selbstkritisch mit und für die lokalen Gegebenheiten entwickelt haben, waren bisher die erfolgreichsten.

Empfehlung 6: Das Forschungsdesign für eine Evaluierung sollte individuell und maßgeschneidert für die Stadt ausgearbeitet werden.

Stadtentwicklungsprozesse sind in die Zukunft gerichtet und haben zukünftige BewohnerInnen als Zielgruppe, demnach sind junge Menschen eine wichtige Fokusgruppe in der Entwicklung und Programmierung.

Empfehlung 7: Die Einbeziehung junger Menschen in die Evaluierungsprozesse bringt eine kritische Auseinandersetzung mit der Entwicklung und eine aktive Mitgestaltung des eigenen Lebensraumes.

Routinen sind angenehm, können aber auch zu eintönigem, unreflektiertem Handeln führen. Jede Bewerberstadt um den Titel Kulturhauptstadt Europas hat die Chance, sich selbst zu hinterfragen und neu zu gestalten. Vielleicht ist es an der Zeit, dies auch mit dem Evaluierungsprozess zu tun?

Elisabeth Leitner stammt aus Amstetten, Österreich und hat in Wien Architektur und Eventmanagement studiert und zur Thematik „Kulturhauptstadt Europas und Stadtentwicklung“ promoviert. Sie forscht und lehrt an der TU Wien und der FH Kärnten, wo sie seit Herbst 2016 die Studiengangsleiterin im Bereich Architektur ist. Elisabeth Leitner hat im Herbst 2014 die Diskussionsplattform kulturhauptstadt2024.at initiiert.