Im Österreichischen Rheintal leben rund 200000 Menschen, 29 Bürgermeister samt ihren Gemeinderäten regieren in 29 Gemeinden, wohlgemerkt auf einer Luftstrecke von rund 35 Kilometern. Die kleinste Gemeinde ist Viktorsberg mit rund 400 Einwohnern, die größte Stadt der Region ist mit rund 50000 Einwohnern Dornbirn. Die Landeshauptstadt, das kulturelle und touristische Zentrum, ist Bregenz. Feldkirch gilt als Bildungsstadt, die den Humanismus in den Vordergrund rückt, was im Jahr 2018 beim 800-Jahre-Stadtjubiläum neu präsentiert werden soll. Hohenems hat mit dem jüdischen Viertel eine herausragende historische Stellung im Rheintal. Nun, das soll, dem Vernehmen nach zu einer Kulturwerkstatt werden. Wie sieht das die Niederösterreichische Landeshauptstadt St. Pölten, wo sich Kulturschaffende mit einem KulturhauptSTART aktiv mit dieser langfristigen Idee auseinandersetzen? 

Im Gespräch mit Culturelab spricht Jakob Redl über die St. Pölten und seine Wahrnehmung aus dem Rheintal …

Österreich ist eine Kulturnation, man dürfte davon ausgehen, dass es doch einige mögliche Kulturhauptstädte 2024 geben sollte. Warum scheint das Interesse so gering, wovor fürchten sich Städte wie Salzburg oder Klagenfurt?

Offen gestanden kann ich hier nur spekulieren, doch was sich bei den Städten zeigt, die einer Bewerbung immer näher kommen, ist die Tatsache, dass es in jedem Fall Menschen braucht die eine Bewerbung pushen. Ob diese jetzt aus den Reihen der Politik selbst, aus den städtischen Kulturabteilungen oder aus der Kulturszene kommen, ist fürs Erste noch nicht entscheidend. Was es dann braucht ist eine Vision oder anders ausgedrückt die Beschreibung einer Zukunftsperspektive für die Stadt und die Region, wo sich im Idealfall während des Bewerbungsprozesses die Grenzen zwischen Mittel und Zweck auflösen. Je kreativer, innovativer und partizipativer die konkreten Teile der Bewerbung sind, desto größer sind die Chancen und umso mehr hat die Stadt schon profitiert, ganz unabhängig vom Ausgang des Verfahrens. Dies zu unterstreichen, ist genau vor dem Hintergrund entscheidend,  dass PolitikerInnen generell Bewerbungen gegenüber keine besondere Vorliebe verspüren. Bewerbung das riecht für sie schon nach Unsicherheit, nach Fremdbestimmung, nach einer möglichen Niederlage. Hier müsste man ansetzen und durch „best practice – Beispiele“ aufzeigen, welche Chancen, Potentiale aber auch Ergebnisse bereits ein Bewerbungsprozess ganz unabhängig von der Entscheidung beinhaltet.

Vielleicht könnte man hier auch überlegen, ob die Bundesregierung nicht als einen Teil ihres Beitrages für die Kulturhauptstadt ein Projekt von jeder Bewerberstadt die es auf die „short-list“ schafft finanziert und damit diesen Städten auch im Kulturhauptstadtjahr die Möglichkeit gibt, sich zu präsentieren.

Natürlich beobachten wir hier in St. Pölten mit großem Interesse, dass sich die freie Kulturszene in Salzburg weiterhin um eine Bewerbung bemüht und dieses Anliegen nun mit der Bevölkerung gemeinsam voranbringen möchte. Leider hatte ja der Bürgermeister bereits im Jahr 2014 eine Bewerbung recht unwirsch abgelehnt. Frei nach dem Motto – wir sind ohnehin jedes Jahr Kulturhauptstadt – ist hier offensichtlich keine Bereitschaft vorhanden, sich überhaupt erst mit den Ausschreibungskriterien, wie der sozialen Inklusion, der Jugendkultur, der Stadtentwicklung und Architektur und den Fragen nach der europäischen Dimension des künstlerischen und kulturellen Schaffens auseinanderzusetzen bzw. gar eine Zukunftsvision dazu zu entwickeln. Das ist schade, denn dieser Zugang diskrediert nicht nur das Engagement zahlreicher Kulturschaffender in Salzburg, sondern blockiert auch den Input, den die Stadt Salzburg in den österreichischen Bewerbungsprozess einzubringen im Stande wäre.

Österreich stellt 2024 wieder eine Europäische Kulturhauptstadt. Warum sollte sich St. Pölten bewerben?

Diese Bewerbung ist tatsächlich eine historische Chance für St.Pölten und die umliegende Region. Es geht dabei nicht um die potentielle Verleihung irgendeines Titels, sondern um einen partizipativen Prozess der Qualitäten analysiert, Potentiale auslotet und konkrete Zukunftsszenarien entwickelt.

St. Pöltens Stadtentwicklung zeigt in eine vielversprechende Zukunft mit hoher Lebensqualität und schnellem Bevölkerungswachstum. Eine mutige und innovative Bewerbung zur Kulturhauptstadt 2024 kann dabei der Stadt und der Region völlig neue qualitative Entfaltungsmöglichkeiten bescheren. Doch nicht der werbewirksame Verkauf von dem was bereits besteht, sondern die kreative Konzeptionierung von dem wo wir gemeinsam hinwollen, soll den Schwerpunkt des Bewerbungsprozesses darstellen. Das ist zugegeben eine große Herausforderung, aber gleichzeitig allein für sich schon ein Gewinn.

Unsere Plattform „KulturhauptSTART St.Pölten“ will Kunst- und Kulturschaffenden, Kunst- und Kultur-Vereinen und Institutionen sowie natürlich allen Bürgerinnen und Bürgern ein Forum bieten, gemeinsam die Politik von einer solchen innovativen Kulturhauptstadt-Bewerbung zu überzeugen. Dabei wollen wir uns nicht auf St. Pölten beschränken, sondern wir plädieren dafür, das Kulturhauptstadtjahr 2024 als Anlass zu nehmen, die Zahl 24 aus herauszulösen, den Zirkel in St.Pölten einzustechen und einen Kreis mit einem Radius von 24 km um die Stadt herum zu zeichnen. Damit ließe sich ein vielfältiger Kulturraum der von Melk bis Neulengbach und von Krems bis Lilienfeld definieren. Gleichzeitig ist man nicht allein auf diesen Raum beschränkt, aber er ließe sich gewissermaßen als Epizentrum der Kulturhauptstadtidee in diesem Jahr präsentieren.

Das Konzept der europäischen Kulturhauptstadt ist heute gerade für sogenannte „second cities“  zu einem effektiven Werkzeug für die Entwicklung und die Innovation geworden. Das erscheint geradezu maßgeschneidert für St.Pölten und die umliegende Region. Beispielhaft dafür steht der Großteil der kommenden Kulturhauptstädte: 2017: Aarhus, Paphos 2018: Valetta, Leeuwarden, 2019: Matera, Plowdiw, 2020: Rijeka oder Galway. Und 2024: St.Pölten?

Wie nimmst du die Mitbewerber, inbesondere jene aus Bregenz und des Rheintals, wahr?

Ich habe volles Vertrauen in die europäische Jury, dass sie das spannendste, innovativste und nachhaltigste Projekt auswählen wird. Abgesehen von den Willensbekundungen aus dem Salzkammergut und aus Baden, war sicherlich Bregenz bzw. die Rheintalregion am stärksten wahrnehmbar. Sie waren nicht nur die ersten die den Prozess starteten, sondern haben auch mit dem gemeinsamen Beschluss der Gemeinderäte von Bregenz, Dornbirn, Feldkirch und Hohenems den politischen Willen einer ganzen Region für einen Bewerbungsprozess manifestiert. Das wirkte sehr ambitioniert und professionell. Gleichzeitig hat man von Seiten des Landes Vorarlberg bisher nur zurückhaltende oder ablehnende Stellungnahmen vernommen. Auch die Frage der Bannerstadt ist noch nicht geklärt und die BürgermeisterInnen betonen immer wieder, dass der Prozess bis nächstes Jahr im Sommer ergebnisoffen verfolgt wird. Wir verfolgen die Entwicklungen mit großem Interesse und werden auch bald mit dem Rheintal aber auch mit anderen Bewerberstädten Kontakt aufnehmen und den Austausch suchen, denn wir sind überzeugt davon, dass dies für alle Beteiligten den eigenen Prozess nur bereichern kann.

Was würde für Bregenz und das Rheintal sprechen?

Diese Region hat zweifelsfrei kulturell, künstlerisch und geschichtlich sehr viel zu bieten. Wer in Vorarlberg unterwegs war/ist, erkennt schnell, dass der große kulturelle und ästhetische Anspruch keineswegs auf die sogenannte Hochkultur beschränkt ist. Gerade was Architektur und Design betrifft, ist man sicher österreichweit Impulsgeber.

Gleichzeitg  ist das Rheintal für grenzüberschreitende Projekte mit Deutschland, der Schweiz und Liechtenstein geradezu prädestiniert. Wenn es den OrganisatorInnen gelingt diese Vielfalt in ein stimmiges Konzept zu gießen und die Bevölkerung von Beginn an einzubinden, ist das Rheintal sicher zu den Favoriten zu zählen.

Im Gegensatz, warum würde St. Pölten den Titel verdienen?

Die Voraussetzungen für St. Pölten sind sicher anders gestaltet. Das betrifft aber nicht nur den leider noch immer eher bescheidenen Ruf den St. Pölten genießt, ein Umstand den es im übrigen auch in einem solchen Bewerbungsprozess kreativ zu be- bzw. zu verarbeiten gilt. Ich möchte jetzt aber bewusst nicht, von den schönen Sehenswürdigkeiten in und um St. Pölten oder etwa über das Weltkulturerbe der Wachau reden, sondern mich vielmehr auf die nach vorne blickende Frage beziehen, wohin will diese Stadt mit der umliegenden Region. Was ist die Zukunftsvision? Eine schöne Altstadt, barocke Architektur, eine Kulturbezirk im Regierungsviertel, ein innovatives Landestheater und die anderen Kunst- und Kulturinstitutionen und Vereine sind da sicher zu wenig. Dies ist einer der wichtigsten Inhalte, den wir als Plattform „KulturhauptSTART St. Pölten“ transportieren wollen. St. Pölten verdient sich den Titel nicht aufgrund der Vergangenheit, sondern wir wollen mit einer spannenden partizipativ konzipierten Zukunftsperspektive überzeugen, die vielleicht auch für andere europäische Mittelstädte aufzeigt, wie man gemeinsam mit der Bevölkerung Kultur als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens neu definieren kann. Es geht uns darum die vorhandene Vielfalt in den Bereichen Kunst, Kultur, Architektur, Soziales, Stadt- und Raumplaung aufzugreifen, neu zusammenzusetzen, Synergien zu entwickeln und in einem europäisches Konzept zusammenzuführen. Wir wollen die Menschen im hier und jetzt dazu bringen, sich mit ihrem Lebensraum, mit ihrer Gesellschaft, ja mit ihrer Kultur auseinandersetzen. Aber nicht um es bei einer theoretischen Reflexion zu belassen, sondern um diese Auseinandersetzung als einen Auftrag für die im Moment beginnende Zukunft aufzufassen.

Wenn das gelingt, dann kann St. Pölten beispielgebend für viele Städte in Europa stehen. Und ja, dann kann man davon sprechen, dass sich St.Pölten den Titel „Kulturhauptstadt Europas“ verdient hat. 

Die Kommission spricht mittlerweile von einem gesamtheitlichen Kulturbegriff. Wie würdest du diesen für dich definieren?

Als erstes klingt es natürlich so, als würde der gesamtheitliche Kulturbegriff einem nicht ganzheitlichen gegenüberstehen. Doch Kultur ist und kann nur ganzheitlich gefasst werden. Was es allerdings sehr wohl gibt, sind verkürzte Auffassungen, die unter Kultur nur „Kulturveranstaltungen“ die für die „Kulturinteressierten“ veranstaltet werden, verstehen. Gegen dieses verfehlte Verständnis richtet sich die Betonung des gesamtheitlichen Kulturbegriffes, der nicht weniger umfasst, als die Grundlage unseres täglichen Zusammenlebens. Versucht man dies zu erfassen, dann muss man die Geschichte, die Politik, die Soziologie, die Ethnologie und natürlich das künstlerische Schaffen genauso miteinbeziehen, wie die Fragen des Brauchtums, der Handwerkskunst, der Architektur, der Esskultur und vieles mehr. Ein gesamtheitlicher Kulturbegriff versucht nun diese unterschiedlichen Bereiche unter einem gemeinsamen Dach zu versammeln und der Bevölkerung zu verdeutlichen, dass sie ganz unabhängig von ihrem Standpunkt ebenfalls unter diesem Dach leben und es permanent ob bewusst oder unbewusst um- und weiterbauen. Diesen Prozess zu sichtbar und greifbar zu machen und dadurch anzuregen, gemeinsam darüber nachzudenken, wohin wir uns bzw. unsere Kultur bewusst für die zukünftigen Generationen gestalten zu wollen, ist eines der Hauptziele für eine partizipative Kozeption einer Kulturhauptstadtbewerbung.

Generell, wäre eine Kulturhauptstadt nicht die Basis für eine kommunale Kulturstrategie, die auch eine zeitgemäße Kulturpolitik erfordern würde?

Die kommunale bzw. regionale Kulturstrategie ist sicher einer der zentralen Dreh- und Angelpunkte der Bewerbung. Denn die geforderte Kulturstrategie verlangt das Ausbuchstabieren der konzipierten Ziele in konkret dargelegte Umsetzungsschritte. Nur so kann das Prinzip der Nachhaltigkeit tatsächlich gepfrüft werden. Die EU hat da sicher aus verschiedenen negativen Beispielen der Vergangenheit gelernt. Es macht keinen Sinn, wenn die Verleihung des Titels der Kulturhauptstadt Europas dazu führt, dass ein Jahr lang Festival-Stimmung erzeugt wird und danach all der Aufwand und die Ideen wieder versanden. Die Nachhaltigkeit umfasst ja eigentlich bereits den Bewerbungsprozess selbst. Denn wenn diese Strategie von der Politik in einem partizipativen Prozess gemeinsam mit den etablierten Kunst- und Kulturinstitutionen, der freie Szene, außen stehender ExpertInnen und unter Einbindung der Bevölkerung gestaltet wird, dann hat eine Stadt schon gewonnen, bevor die Jury überhaupt eine Entscheidung getroffen hat. Denn egal wie das Bewerbungsverfahren ausgeht, die in so einem Prozess entstanden Ideen, Synergien und Visionen bleiben ja auch nach einer Abgabe der Bewerbung in der Stadt selbst. 

Jakob Redl, Mitinitiator der Plattform „KulturhauptSTART St. Pölten“ (gemeinsam mit Michaela Steiner, Susanne Wolfram, Klaus-Michael Urban und Andreas Fränzl). Lebt in Wien und St.Pölten, studierte Politikwissenschaft in Wien und Bordeaux, war als Europaexperte im Nationalrat in Wien und im Bundestag in Berlin beschäftigt, arbeitet im Rahmen eines Projekts der Universität Salzburg zur Krise der Eurozone an seiner Dissertation, war bis Anfang 2016 im Vorstand des Kunst- und Kulturvereins LAMES und Sprecher der zivilgesellschaftlichen Plattform „Sonnenpark bleibt!“

Eine gekürzte Fassung ist im Culturelab#1-Magazin erschienen.